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AutorenbildDr. Nicola Müllerschön

TANZ HAT DIE KRAFT, ALTE DENKMUSTER AUFZUBRECHEN

Aktualisiert: 29. Juli 2020

Ich spreche mit Akram Khan, dem weltweit gefeierten Tänzer und Choreographen, über Leadership, neue Talente und darüber, wie Tanz gesellschaftliche Veränderungen anstoßen kann.

Foto: Nick Dawe


Herr Khan, Sie haben gerade eine sehr wichtige Auszeichnung erhalten: den „Outstanding Achievement in Dance Award“ der Laurence Olivier Awards, die seit 1976 als höchste Auszeichnungen im britischen Theater für Bühnenproduktionen verliehen werden. Herzlichen Glückwunsch! Wie fühlt sich das für Sie an?


Für jeden Künstler ist es immer sehr bewegend, wenn seine Arbeit auf diese Weise anerkannt wird. Und die Olivier Awards sind ­etwas ganz Besonderes, das fühlt sich sehr gut für mich an. 2012 habe ich einen Olivier Award für mein erstes langes Solostück „Desh“ erhalten. Jetzt wird „Xenos“, das mein letztes Solostück sein wird, ausgezeichnet. Der Kreis schließt sich also. Ich fühle mich sehr geehrt und vom Glück gesegnet.


„ICH SUCHE MENSCHEN, DIE SICH AUF EINE GANZ BESTIMMTE REISE BEGEBEN WOLLEN.“

Sie sind gerade mitten in den Proben für die neue Produktion ihrer Kompanie, „Outwitting the Devil“. Sie selbst werden nicht tanzen, aber Sie bringen als Choreograf sechs Einzeltänzer zusammen. Wie schaffen Sie es immer wieder, neue Talente zu entdecken, und wie wissen Sie, dass sie in die Kompanie, die ein besonderes Selbstverständnis auszeichnet, passen?


Wir haben immer ein offenes Vortanzen, wenn wir die Tänzer und Tänzerinnen aussuchen, die unserem Gefühl nach zu unserem Projekt passen. Offen heißt, dass sich jeder bewerben kann und wir dann eine engere Auswahl treffen. Wie weiß ich, dass sie die Richtigen sind? Eigentlich wissen wir das erst, wenn wir gemeinsam gearbeitet haben. Vortanzen und Vorstellungsgespräche haben immer den Nachteil, dass sich der Kandidat von seiner besten Seite zeigt, um die Rolle oder die Stelle zu bekommen. Mir geht es nicht nur um Talent oder um eine besondere Persönlichkeit. Ich suche vielmehr Menschen, die sich auf eine Reise begeben wollen. Wir wollen nicht, dass sie nur Tänzer sind. Wir fordern sie auf, frei zu denken.


Sie sind in England geboren, Ihre Familie stammt aus Bangladesch. Sie sind das beste Beispiel eines interkulturellen Botschafters. Ist diese Rolle ein Segen oder Fluch?

Ich verstehe mich nicht als ein Botschafter für eine bestimmte Hautfarbe mit einem bestimmten Erbe. Es gibt so viele von uns. Ich hatte einfach nur das große Glück, zur richtigen Zeit und am richtigen Ort die richtige Hilfe und Unterstützung erfahren zu haben. Allerdings ist es meiner Meinung nach wichtig zu hinterfragen, wer die Geschichten erzählt. Zu lange haben wir hingenommen, dass der weiße Mann aus dem Westen die Geschichte erzählt und für uns Geschichte schreibt. Das ist einfach nicht richtig. Das ist nicht fair. Fair ist es nie gewesen. Wie Sie eben schon sagten, ich bin ein britischer Bangladescher. In diese Schublade werde ich einsortiert. Es wird zu meiner Identität und meiner Stimme. Und es ist genau das, was ich wieder loswerden will. Ich will nicht, dass die Menschen fragen, woher jemand kommt. Sondern vielmehr, welche Fragen diese Person stellt. Nicht was er ist, sondern was er macht, ist wichtig. Das bricht die Identität auf.


Kann Tanz dazu beitragen?

Auf jeden Fall. Deswegen liebe ich Bewegung und den Tanz so sehr. Denn er hat die potenzielle Kraft, Schubladendenken und alte Denkmuster aufzubrechen. Im Tanz gibt es keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es gibt nur eine natürliche, ewige Zeit.


Meinen Sie damit auch neue Perspek­tiven, wie wir auf Dinge schauen?


Ein Freund von mir hat mir eine Geschichte erzählt, die sehr viel aussagt. Sie handelt von einem westlichen Pressefotografen, der zu Mitgliedern eines Stammes im Amazonasgebiet sagte: „Die Zukunft liegt vor uns und die Vergangenheit hinter uns. Sie ist weg, doch die Zukunft kommt noch.“ Der Stammesanführer antwortete ihm: „Die Vergangenheit liegt vor uns, weil wir sie sehen können. Die Zukunft liegt hinter uns, weil wir sie nicht sehen können.“ Mich reizt es, die Trennlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft aufzuweichen. Wir können die Zukunft nur betrachten, wenn wir auch die Vergangenheit verstehen.


Wie übertragen Sie diese Geisteshaltung auf Wirtschaft, Gesellschaft und unser Alltagsleben?

Wir haben keine Wahl mehr. Irgendwie leiden wir alle an einer Art Demenz, was unsere Fehler der Vergangenheit betrifft. Wir sehen die Vergangenheit nicht als eine Zeit, in der Fehler passiert sind. Wir führen gerade ­dieses Interview und tun so, als ob alles in Ordnung wäre. Aber nichts ist in Ordnung. Die Natur wird uns ausradieren. Aber vielleicht macht es uns Hoffnung, wenn wir jeden Tag aufs Neue aufstehen und aktiv sind. Uns bewegen. Bewegung ist Hoffnung. Deswegen haben wir uns aufgemacht und führen dieses Interview.


Gibt Ihnen Ihre Arbeit in der Kompanie auch die Möglichkeit, diese Botschaft und Ihre Vision zu verbreiten?


Jetzt auf jeden Fall mehr als je zuvor. Nicht nur meine Kompanie sollte das tun, sondern alle Unternehmen dieser Welt. Wir müssen es tun. Für unsere Kinder, die wir hinterlassen. Wir sind die erste Generation, die sich bewusst ist, dass wir unseren Planeten vernichten. Gleichzeitig sind wir die letzte Generation, die daran etwas ändern kann. Bereits diese Aussage ist alarmierend. Es geht also nicht nur um die Verantwortung eines jeden Einzelnen, sondern um die Verantwortung von uns allen. Wir lassen uns so sehr von der Gegenwart einnehmen, dass wir die Zukunft nicht mehr sehen, indem wir aus unseren Fehlern der Vergangenheit lernen. Zu dieser Erkenntnis müssen die Menschen kommen, die ganz oben sind, die an der Spitze von Unternehmen stehen oder als Politiker Länder führen. Denn sie haben doch auch Kinder. Geld wird sie nicht retten.


Wie würden Sie die DNA Ihrer Kompanie beschreiben?

Sie besteht daraus, Geschichten zu erzählen. Allerdings waren diese Geschichten früher meine Geschichten, weil ich sie ausgewählt habe und ich einen Bezug zu ihnen hatte. Seit ich angefangen habe, mich als Tänzer von der Bühne zurückzuziehen, hat sich das langsam verändert. Jetzt sind wir stärker daran interessiert, die Geschichten anderer Menschen zu erzählen.


Ist das ein Akt gesellschaftlicher Verantwortung?

Ein Akt künstlerischer Verantwortung, der natürlich eine Art gesellschaftliche Verantwortung ist. Wenn wir Geschichten erzählen, müssen wir wieder neu lernen, wie wir sie erzählen. Die westliche Art kennt nur richtig oder falsch, gut oder böse, Himmel oder Hölle, rechts oder links. Deswegen liebe ich Mythen so sehr, vor allem die der orientalischen Welt. Richtig und falsch existiert auch, aber in einem sehr komplexen Verständnis. Falsch ist nicht komplett falsch und richtig ist nicht komplett richtig. Und genau das ist sehr menschlich. Es entspricht der Komplexität der menschlichen Existenz.


In Ihrer neuesten Produktion, „Outwitting the Devil“, arbeiten Sie mit einem älteren Tänzer zusammen, mit dem faszinierenden Dominique ­Petit. Warum ist Ihre Wahl auf ihn gefallen?

Ich wollte Zeit und Körper reflektieren – im doppelten Wortsinn. Widerspiegeln, wie wir als globale Gesellschaft – aber vor allem als westliche Gesellschaft – das Alte als unwichtig bewerten. Dabei vergessen wir, dass das Alte gleichzeitig das Neue ist.


Was ist der Vorteil, wenn Sie ältere Menschen in die Arbeitswelt integrieren?

Ich sage Ihnen lieber, was nicht so gut zwischen alter und junger Generation gelaufen ist: das patriarchalische, hierarchische System. Also habe ich ein System eingeführt, das flach ist. Egal, ob ich 20 oder 70 bin, ich bin weder mehr noch weniger wert. Wir alle haben dieselbe Verantwortung.


„Xenos“ steht für Ihren Abschied als Solotänzer von der Bühne. Empfinden Sie „Xenos“ eher als Übergang oder als Wendepunkt in Ihrer Tänzer- und Choreografenkarriere?

Auf jeden Fall ein Übergang. Vor ­allem, wenn es um das persönliche Empfinden geht. Mein Körper ist meine Stimme. Wenn mir das jemand nimmt – sei es durch bestimmte Umstände wie mein Alter oder die Zeit – was bleibt dann übrig?


War es denn eine Entscheidung, die ­jemand für Sie getroffen hat?

Nein, ich habe diese Entscheidung getroffen. Sonst wäre sie für mich getroffen worden. Ich konnte sehen, wie mir die Zeit diese Entscheidung nach und nach abnehmen würde. Also habe ich es entschieden. Zumindest denke ich, dass es so war.


Wie gut können Sie Entscheidungen treffen?

Ich treffe zwar die finale Entscheidung, doch bin ich nicht die einzige Stimme, die das Sagen hat. Ich entscheide nie ganz allein. Das habe ich nie getan. Es ist immer ein Mitei­nander. Es fing mit meiner Mutter an, ging viele Jahre später weiter mit meinem Produzenten Farooq Chaudhry. Wieder viele Jahre später war es dann meine Dramaturgin Ruth Little. Und jetzt muss ich mich mit meiner sechsjährigen Tochter abstimmen, die kämpferisch und leidenschaftlich zugleich ist.


Worum geht es bei Ihren Auseinandersetzungen?

Meine Tochter ist erst sechs. Wir streiten oft. Nicht selten darüber, wie sie mit ­digitaler Technologie umgeht. Sie ist beispielsweise mit mir im Studio. Ich tanze und zeige ihr etwas. Es dauert nur zwei Minuten und sie hängt am iPad. Ich erkläre ihr, dass viele Menschen extra ins Theater kommen, um mich auf der Bühne zu sehen. Und dass sie gerade eine Exklusivvorstellung bekommt. Dann sagt sie nur „Yeah“ und schaut wieder Beyoncé auf ihrem iPad zu. Mit Beyoncé, die sicherlich fantastisch ist, kann ich einfach nicht mithalten. Ich kann aber auch nicht mit digitaler Technologie wetteifern. Denn sie gibt uns Menschen Informationen in einer Geschwindigkeit, die uns das reale ­Leben nicht bieten kann. Deswegen ist meine Tochter so schnell gelangweilt.


Vor 20 Jahren haben Sie Ihre Kompanie gegründet. Damals haben Sie die treibende Kraft und die zugrunde liegenden Regeln dafür mit folgenden Worten beschrieben: „Mut zum Risiko, keine Angst vor großen und gewagten Ideen, Neugier auf Unbekanntes, keine Lust auf Kompromisse und lasst uns künstlerisch glaubwürdig, durch unsere Art zu tanzen, Geschichten erzählen, die fesseln und die wichtig sind.“ Haben diese Regeln immer noch Bestand?


Nun ja, die Regeln sind für mich komplex geworden. Mut zum Risiko – ja, auf jeden Fall sollten wir uns auf unbekanntes Gebiet wagen. Die Schwierigkeit ist doch, dass wir uns zu oft und zu sehr in unserer Komfortzone bewegen. Wir haben ein Zuhause und ein Umfeld aus unseren Freunden. Alles ist etabliert und strukturiert. Eine Struktur, die uns ein Gefühl der Sicherheit gibt. Dagegen müssen wir uns dem Ungewohnten aussetzen. Mut zum Risiko ist also ganz wichtig. Keine Angst vor großen und gewagten Ideen – nein, hier würde ich heute eher sagen: keine Angst vor kleinen und gewagten Ideen.


Warum klein?

Schneller, größer, weiter, besser. Das ist der Weg zum Erfolg. Dieses westliche Konzept ist an sich ein Problem. Wir stellen die falschen Fragen. Think big? Nein, think small. Nicht nur klein, sondern klitzeklein. Wir fragen uns immer, wie wir ganz nach oben kommen, große Ziele erreichen. Wir schauen uns aber nicht die Moleküle und Atome an, die sich direkt vor unserer Nase befinden. Wir müssen unsere Sichtweise ändern.


Wie sieht es mit den restlichen Regeln aus?

Neugier auf Unbekanntes – das gilt auf jeden Fall auch heute noch. Keine Lust auf Kompromisse? Nein, heute gilt für mich: Lerne, Kompromisse zu schließen!


Würden Sie das alles auch so dem 24-jährigen Akram sagen?

Nein, auf keinen Fall. Damals musste ich genau das tun, was ich getan habe. Und ich tat es nicht allein, sondern zusammen mit meinem Produzenten Farooq. Wir haben es gemeinsam getan.


Hat es sich damals also richtig angefühlt?

Ja, und es zeigt auch unser Alter. Wir wollten uns selbst beweisen. Wir wollten ganz groß sein, alles und alle in den Schatten stellen. Das Witzige dabei ist, dass ich immer introvertiert war. Keinesfalls extrovertiert. Gerade im Westen, vor allem in den USA, werden Extrovertierte gefeiert. Je lauter man ist, desto wichtiger ist man. Doch bei genauem Hinsehen sind eigentlich alle großen Künstler – und dabei lasse ich mich außen vor – eher introvertierte Menschen.


Welchen Rat würden Sie Führungskräften geben, wenn sie Regeln festlegen und Visionen vorgeben?

Zuerst zuhören, dann reden.


Herr Khan, ich danke Ihnen für das Gespräch.


Leicht veränderte Fassung der Erstveröffentlichung für positionen, das Magazin von Odgers Berndtson: https://positionen.de/ausgabe-19-20/tanz-hat-die-kraft-alte-denkmuster-aufzubrechen/



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