Dr. Matthias Henkel ist Inhaber und Geschäftsführer der Agentur "Embassy of Culture" in Berlin, die er 2016 gründete. Er ist Präsident von ICOM MPR (International Councils of Museums, International Committee of Marketing and Public Relations) und lehrt als Lecturer Professor an der Central Academy of Fine Arts in Beijing/China.
Und die Moral von der Geschicht‘...
Aktuell befinden wir uns im pandemischen COVID-19-Kontext. Wer aber sagt uns, dass diese Phase schnell vorbeigeht? Vermutlich sollten wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, nicht im Jahr eins nach Corona (1 n. C.) zu leben, sondern im Jahr eins mit Corona (1 m. C.). In jedem Falle hat die aktuelle Situation bereits jetzt für bislang als unvorstellbar gehaltene Auswirkungen auf unsere Jetztzeit gesorgt – von den psychologischen, gesellschaftlichen und ökonomisch-ökologischen Langzeitwirkungen einmal ganz abgesehen. Derzeit sind Rettungsschirme unterschiedlichster Ausstattung hoch im Kurs und in aller Munde. Mitunter werden damit wohl auch Untote – das heißt aus der Zeit gefallene Konzepte – dem Versuch der Revitalisierung unterzogen; das ist dem Eifer des Gefechts, oder dem Versuch der Versorgung der jeweils eigenen politischen Klientel geschuldet. Da kommt einem fast zwangsläufig Wilhelm Busch in den Sinn: „Und die Moral von der Geschicht’: Bad’ zwei in einer Wanne nicht!“. Diese ironische Empfehlung scheint zumal in viralen Zeiten überaus sachdienlich, würde es sich doch dabei um die kleinstmögliche Variante einer Corona-Party handeln.
Zur Führung gehören neben fachwissenschaftlicher Kompetenz auch kulturpolitisches Fingerspitzengefühl und ökonomischer Sachverstand.
Nehmen wir also zur Betrachtung der aktuellen Museumslandschaft zwei der ausgesprochenen Worte genauer in den Blick: Moral und Geschicht‘. Beide Begriffe gehören zum erweiterten Markenkern des Museums. Auch im Kulturbereich hat längst der Markt – und damit der Wettbewerb – Einzug gehalten, und sei es um die Einwerbung von Forschungs- und Projektgeldern oder die Akquisition von Sponsoren. Wenn man so will, stellte gerade das symbolische Kapital der Ehre (Pierre Bourdieu) den Sehnsuchtsfaktor dar, der Museen für potentielle Sponsoren besonders attraktiv erschienen ließ. Dabei haben Museen in der Vergangenheit mitunter weniger Sorgfalt darauf verwandt, im Vorfeld einer Sponsorenvereinbarung genauer zu hinterfragen, aus welcher Quelle sich denn der Reichtum der potenten Förderer nährt. Wohl zu verlockend waren die Aussichten auf zusätzliche Mittel, mit derer Hilfe ersehnte Projekte konzipiert, Ankäufe getätigt oder neue Erweiterungsbauten realisiert werden konnten. Dies gilt insbesondere für den angelsächsischen Raum, der im Museumswesen deutlich marktwirtschaftlicher aufgestellt ist, als dies für den deutschen Sprachraum gilt, wo Kultur zwar nicht Staatsziel ist, aber dennoch deutlich mehr öffentliche Mittel in die Kultur fließen. Insgesamt gilt, dass sich Museen inzwischen zu hoch komplexen ExpertInnensystemen gemausert haben, zu deren qualifizierter Führung neben einem gerüttelten Maß an nachweislich fachwissenschaftlicher Kompetenz eben auch kulturpolitisches Fingerspitzengefühl und ökonomischer Sachverstand gehören.
Ein Blick auf einige der Museums-Charakterisierungen macht deutlich, dass ein steter Wandel des Profils zu attestieren ist – zumindest was die institutionellen Meta-Narrative angeht:
Das Museum als Freistätte für Kunst und Wissenschaft (König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen).
Das Museum als Ort der permanenten Konferenz (Joseph Beuys)
Das Museum als Musentempel oder Lernort (Ellen Spickernagel/Brigitte Walbe).
Das Museum als Identitätsfabrik (Martin Roth/Gottfried Korff)
Das responsive Museum (Caroline Lang/John Reeve)
Das partizipative Museum (Nina Simon)
Das müde Museum (Daniel Tyradellis)
Das agile Museum (Douglas Hegley/Meaghan Tongen/Andrew David)
Diese gar nicht erschöpfende Aufzählung von mehr oder minder visionären Zuschreibungen gipfelt in dem Sachverhalt, dass dieser Tage der internationale Fachverband aller Museumsprofessionals in einem tiefen Diskurs – um nicht zu sagen Dissens – um die aktuelle Museumsdefinition steckt.
Dies ist nicht nur als ein verbandsinternes Dilemma zu verstehen, sondern wird über kurz oder lang auch erhebliche Auswirkungen in den kulturpolitischen Sektor hinein zeitigen. Welchem/r KulturpolitikerIn werden die MuseumsmacherInnen noch die Finanzierung eines Depots abtrotzen können, wenn in der neuen Museumsdefinition das kleine Wörtchen "dauerhaft", wenn es um die institutionelle Verfasstheit des Museums geht, nicht mehr steht? Selbst Best-Practice-Erfahrungen von anderen Orten, die dann herangezogen werden könnten, stellen dann keine Garantie mehr dar. Denn Museen sind auf gewisse Weise soziale Wesen, die mit ihrem sozioökonomischen, geographischen und kulturellen Umfeld auf das Engste verwoben sind. Einen übergreifenden Masterplan gibt es da eben nicht. Wir leben – nach Jürgen Habermas – im Zeitalter der Neuen Unübersichtlichkeit. Wo unser Wissensbestand exponentielles Wachstum aufweist, stellt heute Orientierungswissen die neue Gattung von Kernkompetenz dar. Um es genauer zu fassen: Orientierungswissen mit der Fähigkeit zur Entwicklung holistischer Ansätze. Wie aber steht es um das moralisch fundierte Anforderungsprofil des Museums 4.0?
VISION und MARKE
Den Ausgangspunkt für eine institutionelle Entwicklung bildet die Herausarbeitung eines unverkennbaren, ganzheitlich verstandenen Markenkerns. Wird diese Obliegenheit allein kommunikativ verstanden und an die PR-Abteilung delegiert, ist die Tiefe der Verwurzelung dieser Aufgabe im Sammlungsbestand und den anderen Standortfaktoren nicht wirklich wahrgenommen. Einzig und allein basierend auf dem Content und den übrigen Ressourcen können Mission und Vision entwickelt werden, die sich dann als wiedererkennbare Markenpersönlichkeit mit strategischer Konsequenz vermitteln lässt; crossmedial – versteht sich.
RELEVANZ
Wuchs den Museen im Laufe der Jahrhunderte ihres Bestehens eine Art Deutungshoheit – im Sinne eines "so war es" – zu, was historische, ästhetische oder sozioökonomische Kontexten betrifft, so gilt es heute, den Fokus der Arbeit nicht nur in Bezug auf das Vergangene, sondern auf das Gegenwärtige und die potentiellen Zukünfte zu weiten. Nur so kann es gelingen, nach wie vor als gesellschaftlich relevante Einrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge anerkannt zu werden. Hier braucht die Institution Museum ein entsprechendes Gespür, um Themen zu erspüren, die für die eigene Einrichtungen und den gesellschaftlichen Zusammenhang von Relevanz sind.
Gelingt es dem Museum, eine auch sinnlich begehbare Brücke der Relevanz zwischen der Vergangenheit der Sammlungen und der Gegenwart der BesucherInnen zu schlagen, ist das Museum in der Alltagswelt seiner NutzerInnen angekommen. In den Zeiten des Lockdowns haben einige Museen bereits mit der Sammlung zeitgenössischer Lockdown-Accessoires begonnen, um diesen globalen Zeitschnitt späteren Generationen gegenüber auch materiell dokumentieren zu können (Rapid Response Collecting).
RESPONSIVITÄT
Der Begriff Responsivität ist in diesem Zusammenhang eindeutig zweideutig zu verstehen, denn es geht sowohl um die mentale Bereitschaft als auch um die technologische Fähigkeit, sich auf die jeweiligen wechselnden Anforderungen flexibel einstellen zu können. Ein hohes Maß an sozialer wie auch fachlicher Kompetenz quer zu allen bestehenden Abteilungsstrukturen ist hierfür Voraussetzung. Mitnichten geht es darum, die traditionelle Objektzentrierung des Museums durch eine reine BesucherInnenorientierung zu ersetzen. Vielmehr gilt es, den Museumsbesuch in eine ganzheitlich betrachtete Visitor Journey zu transformieren: Auf diese Weise ändert sich auch der Blick auf die BesucherInnen, bei denen künftig zwischen Visitor, User, Follower, Surfer und Contributer zu unterscheiden sein wird. Wird die hier umschriebene Form der Responsivität ernsthaft betrieben, entsteht an den Grenzflächen zwischen dem Museum und seinen NutzerInnen Polyperspektivität und Polyphonie – das Museum stellt seine angestammte Deutungshoheit also zumindest zur Diskussion.
TRANSPARENZ
Authentizität im Denken und Handeln gepaart mit einem soliden Verantwortungsbewusstsein sind gute Voraussetzungen, um nach innen wie nach außen transparent agieren und kommunizieren zu können. Auf diese Weise entsteht ein institutionelles Vertrauensverhältnis, auf dem sich wirklich nachhaltige Entwicklungen gestalten lassen. Dies gilt zumal für das Mega-Thema Provenienz.
Selbst im angestammten – und gerade in der Diskussion befindlichen - Kanon der Museen, dem ICOM Code of Ethics, wird das Sammeln und Erforschen der Bestände eingefordert. Mithin müsste eigentlich die Erforschung der Provenienz – d.h. die lückenlose Erforschung der Besitz- bzw. Eigentumsverhältnisse eines Sammlungsgegenstandes seit dessen Herstellung – mit höchster Priorität verfolgt worden sein.
Für den Sammlungszusammenhang des NS-verfolgungsbedingten Entzuges gibt es mit der Washingtoner Erklärung von 1998 eine hinreichende moralische Verpflichtungserklärung, was zumindest die öffentlichen getragenen Sammlungen betrifft. Es bedurfte allerdings erst des „Schwabinger Kunstfundes“ – kurz „Gurlitt“, um den öffentlichen Druck auf die Museen dergestalt zu erhöhen, dass mit der Einrichtung des Zentrums Kulturgutverluste in Magdeburg auch eine Infrastruktur geschaffen wurde, die durch Förderungen auch kleine Museen in die Lage versetzt, entsprechende Provenienzrecherchen am eigenen Sammlungsbestand vornehmen zu können. In diesem Zuge wurden auch entsprechende Lehrstühle an Universitäten eingerichtet, um den erforderlichen wissenschaftlichen Nachwuchs überhaupt qualifizieren zu können.
In Deutschland (im Zuge der Diskussionen um das im Entstehen befindliche Humboldt Forum in Berlin) und in Frankreich (man denke an die Rede des Präsidenten Macron in Ouagadougou) ist die Frage der Provenienz und insbesondere die Klärung der Aneignungsprozesse von Sammlungsbeständen aus kolonialen Zusammenhängen ein künftig mehr als relevanter Tatbestand. Die bereits angelaufene Dekolonisierungsdebatte in den Museen wird durch die tagespolitischen Ereignisse in Amerika zusätzlich im wahrsten Sinne des Wortes befeuert. Umfassende Transparenz – d.h. Zugänglichmachung der erforderlichen Quellen – ist bei der notwendigen Aufarbeitung da oberste Priorität. Erst auf dieser Basis ist es möglich, operative Handlungsleitlinien für eine nachhaltige und kooperative Fortentwicklung zu definieren.
WERTE UND MORAL
Die ethischen Anforderungen an das Museumswesen sind gerade im vergangenen Jahrzehnt erheblich gewachsen. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit den Sammlungsbeständen. Die Klärung der Provenienz – sei es im Zusammenhang mit dem NS-verfolgungsbedingten Entzug oder in der Verpflichtung zur Dekolonisierung - ist fester Bestandteil des operativen Museumskanons geworden. Obschon das Museum ein Wissensspeicher materieller und immaterieller Kontexte ist, gilt auch hier die Devise: Unlearning the Given – d.h. immer wieder auch die institutionelle Bereitschaft zu beweisen, den eigenen Kontext und den eigenen Wertekanon aktiv in Frage zu stellen und den Perspektivwechsel zu proben. Das Medium der Sonderausstellung ist dazu besonders geeignet, weil gerade damit auf aktuelle Entwicklungen und Fragestellungen eingegangen werden kann. Oben wurde bereits auf die erforderliche Sensibilität auch bei der Einwerbung von Drittmitteln hingewiesen. Wie sich zeigt, hat selbst das Diktum eines Berthold Brecht – „erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ – nur noch eine gewisse Halbwertzeit. Es zahlt sich also durchaus langfristig aus zu prüfen, mit wem man sich langfristig bindet.
DIGITALITÄT
Gerade der Lockdown hat unter Beweis gestellt, dass alle die Authentizität und die Aura der Originale dann verblassen, wenn die Stätten der eigenen, analogen Anschauung aus Gründen des Gesundheitsschutzes verschlossen bleiben müssen. Eine Analyse der digitalen Praxen, die als Surrogat ins Netz gestellt wurden, macht deutlich, dass die analogen Originale in den Museen nicht ihre Attraktivität dadurch einbüßen, wenn sie digital versendet werden. Allerdings – und dieser Einwand wird mit Nachdruck formuliert - gilt dies nur dann, wenn für die Kuratierung der digitalen Inhalte ein vergleichbarer Aufwand getrieben wird, wie dies für das konventionelle Ausstellungswesen selbstverständlich ist. In der Tat gilt es, für den digitalen Raum überhaupt erst eine authentische szenographische Sprache zu entwickeln (digitale Szenographie). Dies kann dann erfolgversprechend gelingen, wenn die Digitale Praxis auf einer ganzheitlichen Digitalen Strategie fußt, wenn also das analoge Museum 1.0 mit seinem Digitale Zwilling zu einem neuen Ganzen wird, zu einem hybriden Museum 4.0.
Dr. Matthias Henkel ist Inhaber der Agentur "Embassy of Culture”, Berlin. Die Agentur bietet die gesamte Wertschöpfungskette für den Kultursektor an: von der Konzeptentwicklung über die Realisation bis hin zur strategischen Kommunikation und wissenschaftlich fundierten Evaluation. Dr. Matthias Henkel ist Präsident von ICOM MPR und lehrt als Lecturer Professor an der CAFA in Beijing/China. Als Mitglied im Leitungsteam des Zentrums für Audience Development (ZAD) am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin war er von 2013 bis 2017 in Forschung und Lehre tätig. Parallel war er Markenberater im Kultursektor für die MetaDesign AG. Von 2009 bis 2013 war er Direktor der Museen der Stadt Nürnberg, von 2001 bis 2009 leitete er die Stabsstelle Presse, Kommunikation und Sponsoring der Generaldirektion der Staatlichen Museen zu Berlin/Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Er promovierte im Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen.
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